Dieter Scholl

Herr Dieter Scholl in seinem Wohnzimmer.

Herr Scholl, wir möchten mit Ihnen über den 7. Januar 2016 sprechen. Was erinnern Sie von diesem Datum?

Dieter Scholl: Nichts. Meine Erinnerung hört ca. eine Woche vor diesem Tag auf – und setzt erst wieder ca. zwei Wochen danach ein. Was mir genau am 7. Januar 2016 widerfahren ist, weiß ich nur aus Erzählungen – von meiner Frau, von Ärztinnen und Ärzten im Klinikum Marburg, von einem Kellner.

Was haben Ihnen diese Personen denn erzählt?

Dieter Scholl: Ich war joggen. So, wie ich das oft gemacht habe. An dem Tag war ich ganz in der Nähe meines Wohnorts unterwegs. Es gibt dort einen Naherholungsbereich – mit einem Schwimmbad und einem Restaurant. Ich bin gelaufen und plötzlich zusammengebrochen. Davon weiß ich selbst aber nichts mehr. Ein Kellner des Restaurants, an dem ich vorbeilief, hat meinen Zusammenbruch beobachtet, ist herausgelaufen, hat den Notarzt verständigt und Erste Hilfe geleistet. Letztlich verdanke ich der besonnenen Handlung des Kellners mein 2. Leben.

Wie dramatisch war die Situation? Sie sprechen von Ihrem 2. Leben?

Dieter Scholl: Es war sehr dramatisch. Man hat mir später im Klinikum in Marburg gesagt, dass ich eine Überlebenschance von 0,5 % hatte. Aber Sie sehen, ich habe sie genutzt …

Noch einmal zurück zu der Situation vor dem Restaurant. Wie genau hat der Kellner Ihnen geholfen?

Dieter Scholl: Meine Frau und ich haben nach meiner Genesung Kontakt zu dem Kellner aufgenommen und uns bedankt. Er hat mir davon berichtet, dass er mich reanimiert habe mit Herzdruckmassage. Er hat den Puls gemessen. Da hatte ich wohl noch welchen. Im weiteren Verlauf gab es eine Phase, in der bei mir kein Herzschlag mehr feststellbar war. Nach rund sieben Minuten war der Notarzt und Rettungswagen da. Das Team hat übernommen. Ich wurde zuerst ins naheliegende lokale Krankenhaus gebracht. Allerdings schätzten die Ärzte dort die Situation so ernst ein, dass man sofort die Verlegung ins Klinikum Marburg, zu Kardio-Spezialisten, vorbereitete.

„Ich wurde also mit dem Krankenwagen direkt weiter nach Marburg gebracht, wo man mich operiert hat.“

Frau Scholl, schön, dass Sie ebenfalls unserem Interview beiwohnen können. Wie haben Sie davon erfahren, dass Ihr Mann im Krankenhaus mit einem schweren Herzinfarkt ist?

Frau Scholl: An besagtem 7. Januar war ich zu Hause und wartete auf meinen Mann. Normalerweise ging er nicht so lange joggen. Ich war zuerst sauer, dass ich ihn nicht erreichen konnte. Denn sein Handy lag bei uns zu Hause. Nachdem es aber immer später wurde, habe ich mir Sorgen gemacht. Und plötzlich klingelte es. Die Polizei stand vor der Tür und berichtete mir, dass mein Mann im lokalen Krankenhaus sei und gerade für die Verlegung nach Marburg vorbereitet werde. Ich solle mich beeilen, wenn ich ihn begleiten möchte.

Wie hat die Polizei Sie so schnell ausfindig gemacht?

Dieter Scholl: Ich war früher selbst bei der Polizei. Man kennt mich in der Region. Da ich keine Papiere bei mir hatte, hat die Notärztin die Polizei informiert – und dort haben mich ehemalige Kollegen erkannt.

Frau Scholl, Sie sind wahrscheinlich Hals über Kopf ins Krankenhaus gefahren?

Frau Scholl: Richtig. Meine Tochter begleitete mich. Als wir ins Krankenhaus kamen, lag mein Mann da – im künstlichen Koma. Es ging alles sehr schnell. Er wurde nach Marburg verlegt. Das sind ca. 30 Kilometer von uns.

Und was passierte dort? Herr Scholl, Sie sagen, Sie wurden operiert?

Dieter Scholl: Richtig. Ich bin operiert worden und habe mehrere Stents bekommen. Die Operation war aber wohl nicht ganz ohne.

Frau Scholl: Es hat endlos lange Stunden, bis morgens 3 Uhr, gedauert. Dann kam zuerst ein Arzt aus dem Operationssaal. Der war nassgeschwitzt. Es muss eine sehr anstrengende Operation gewesen sein. Danach kam eine Ärztin zu mir. Und nun kommen wir zum Trauma meines Lebens. Die wenig sensiblen Worte der Ärztin haben sich mir so ins Gedächtnis gebrannt, dass ich sie nie mehr vergessen werde. Sie sprach mich an und sagte: „Sie wollen jetzt sicher wissen, wie es Ihrem Mann geht und ob es lebensbedrohlich war? Ich kann Ihnen sagen: Ihr Mann ist heute Nacht gestorben. Wir unterhalten uns jetzt über die Situation nach seinem Tod.“ Ich wusste gar nicht mehr, was ich sagen sollte. Ich war geschockt. Man ließ mich allerdings einmal kurz in die Intensivstation zu meinem Mann. Ich konnte sehen, dass er lebte.

[Herr Scholl zeigt uns ein Foto von sich im Krankenbett mit diversen Geräten um ihn herum und angeschlossen durch eine Vielzahl an Schläuchen.] „So lag ich da …“

Haben Sie denn vom Klinikpersonal auch eine qualifiziertere Auskunft erhalten?

Frau Scholl: In den nächsten Tagen, ja. Ich bin täglich ins Krankenhaus gefahren und habe Stunden bei meinem Mann verbracht. Ich bin selbst vom Fach und weiß als Altenpflegerin, was es an Pflege für bettlägerige Personen braucht. Ich habe bei meinem Mann Mundpflege gemacht und ihn massiert. Wenn ich an sein Knie gestoßen bin, hat der Puls ausgeschlagen. Das war ein Zeichen für mich, dass er hier Schmerzen hatte. Wahrscheinlich war er beim Sturz aufs Knie gefallen.

„Bei der Zahnpflege hat er mich gebissen. Auch das war ein Zeichen, dass Reflexe da sind.“

Sie, Herr Scholl, bekamen von all dem nichts mit?

Dieter Scholl: Nein, gar nichts. Ich lag elf Tage im Koma. Danach wurden stufenweise die Medikamente abgesetzt und ich wurde zurückgeholt. Meine Frau hat mir berichtet, dass sie mir Musik vorgespielt hat – bis hin zu den Stimmen unserer Enkel. Davon weiß ich allerdings nichts. Das Erste, was ich selbst erinnere ist, dass ich das Krankenbett fühle und merke, ich bin im Krankenhaus.

Wie ging es für Sie nun weiter?

Dieter Scholl: Ich hatte keine Schmerzen. Obwohl man mir bei der Wiederbelebung alle Rippen gebrochen hatte. Nach der Zeit im Klinikum Marburg kam ich in eine Reha, danach nach Hause. Schauen Sie, das Foto hier zeigt mich am Tag meiner Rückkehr in unser Haus. 

[Herr Scholl zeigt uns ein Foto an der Wand mit Familienerinnerungen, auf dem er dunkel gekleidet in einem Sessel sitzt.]

Herr Dieter Scholl beim Joggen auf einem Feldweg.

Wie ging es für Sie weiter, Frau Scholl, als Ihr Mann noch im Krankenhaus und dann in der Reha war?

Frau Scholl: Meine Kinder haben sich sehr um mich gekümmert. Eines Tages kam auch der Pfarrer unserer Gemeinde zu mir. Ich dachte erst, er wolle sich nach Dieter erkundigen. Er wollte aber zu mir – und schauen, wie es mir ging. Das hat sehr gutgetan. Ebenfalls schön war es, eine meiner Enkelinnen nah bei mir zu haben. Sie hat mit mir in unserem Haus übernachtet.

Haben Sie sich nach Ihrer Genesung bei Ihren Retterinnen und Rettern bedankt?

Dieter Scholl: Wir waren überall. Zuerst bei dem Kellner, der so besonnen reagiert hat. Meine Frau und ich haben uns gefragt, wie man so jemandem dankt. Wir haben ihm ein besonderes Seminar bezahlt, das er gerne besuchen wollte, um mehr zu tun, als nur Danke zu sagen. Natürlich waren wir auch bei dem lokalen Rettungsdienst, der mich ins Krankenhaus gebracht hat und im Klinikum Marburg.

Frau Scholl: Da ich jeden Tag vor Ort war und meistens auch Kuchen mitbrachte, den ich als Ablenkung gebacken hatte, war man richtig aneinander gewöhnt. Das war ein sehr besonderes Team, dem mein Mann und ich mehr als dankbar sind.

Dieter Scholl: Mein Schwiegersohn ist Kardiologe. Er hat meine Nachbehandlung übernommen. Somit liegen ihm auch meine Krankenhausakten vor.

Welches Fazit hat Ihr Schwiegersohn aus den Akten gezogen?

Dieter Scholl: Mein Schwiegersohn hat sich insbesondere die Mengen an Kontrastmittel angesehen, die man mir vor und während der OP verabreicht hat. Mit diesen Mengen hätte ich eigentlich gar nicht überleben dürfen. Davon hätten meine Nieren versagen müssen – so viel war das. Ich habe es aber geschafft, wie Sie sehen.

Wie geht es Ihnen denn heute? Waren Sie schon wieder joggen?

Dieter Scholl: Mir geht es phantastisch. Wirklich sehr gut. Ich gehe ganz normal zu den Nach- und Vorsorgeuntersuchungen und nehme noch einige Tabletten. Das ist aber nichts Besonderes. Ich könnte wieder joggen, wenn mein Knie es zuließe. Anstelle des Joggings, haben meine Frau und ich das Fahrradfahren entdeckt. Wir unternehmen Touren mit unseren eBikes. Und draußen steht auch unser Wohnmobil.

Welche Pläne haben Sie damit?

Dieter Scholl: Wir sind ständig auf Achse – jeden Monat. In nächster Zeit stehen einige Feste an. Meine Frau mag außerdem Volksmusik sehr gerne. Deshalb fahren wir in Kürze zu einem Konzert ihrer Lieblingsband.

Frau Scholl, wenn Sie Ihren Mann heute anschauen. Hat sich etwas verändert?

Frau Scholl: Mein Mann verneint das. Ich aber sage: Ja, eine Menge. Mein Mann hat sich verändert. Früher war er zärtlicher. Ich selbst habe mich aber auch durch das Erlebte verändert. Ich habe zwar keine Angst vor dem Tod. Ich sortiere seitdem jedoch alles so, dass zum Beispiel abends, wenn ich ins Bett gehe, die Wohnung aufgeräumt und geordnet ist. Zu meinem 70. Geburtstag ist mir zum ersten Mal das Thema „Alter“ bewusst geworden. Ich habe doch noch so viele Pläne. Insbesondere möchte ich unsere Enkelkinder aufwachsen sehen.

Herr Scholl, wenn Sie heute zurückblicken, welche Gedanken kommen Ihnen dann?

Dieter Scholl: Zuerst einmal Dankbarkeit. Ich wiederhole aber immer wieder die Botschaft, dass man auch als Laie in einer derartigen Notsituation helfen kann und helfen soll. Man kann ja nichts falsch machen. Nicht helfen, das ist falsch. Ich selbst war Polizist und habe die andere Seite, also die Seite der Helfenden, mehrfach kennengelernt. Mein Appell an alle Leserinnen und Leser ist: Wenn Sie einen Menschen mit Herzstillstand finden, handeln Sie sofort. Beginnen Sie mit der Herzdruckmassage und rufen Sie den Rettungsdienst. Die 112 sind drei Ziffern, die Leben retten.

Liebes Ehepaar Scholl, vielen Dank dafür, dass wir so locker an Ihrem Kaffeetisch über ein Ereignis sprechen konnten, das Ihr Leben umgekrempelt hat. Wir wünschen Ihnen noch viele gemeinsame Kilometer mit dem Rad und Wohnmobil. 

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