Dirk Wiezer

Dirk Wiezer in Portraitansicht vor eingelagertem Holz.

Herr Wiezer, vielen Dank, dass Sie sich mit uns an einen besonderen Tag in Ihrem Leben zurückerinnern. Sie haben mit Ihrer Frau, deren Schwester und Ihrem Schwager ein Weinfest besucht. Was passierte dort?

Wir haben ein Weinfest in Radebeul-Altkötzschenbroda besucht. Gegen 22 Uhr sind wir zum Parkplatz aufgebrochen. Wir wollten nach Hause fahren.

Was war das Erste, was Sie bei der Rückkehr zu Ihrem Fahrzeug auf dem Parkplatz gesehen haben?

In einer großen Parklücke standen Menschen. Es sah nach einem Unfall aus. Drei jüngere Personen standen auf einer Seite der Parklücke und weinten. Geschätzt 20 bis 25 weitere Personen standen auf der anderen Seite und – lassen Sie es mich salopp sagen – gafften. Ich bin hingelaufen um zu schauen, ob Hilfe benötigt wird.

Was waren Ihre ersten Gedanken und was haben Sie getan?

Die Menschen standen im Halbkreis. Auf dem Boden lag ein junger Mann. Ich habe meinem Schwager zugerufen, er möge bitte den Verbandskasten und eine Decke aus seinem Auto holen. Ich habe mich über den am Boden liegenden Mann gebeugt. Ich habe seine Atmung kontrolliert und geguckt, ob er ansprechbar ist. Das war beides nicht der Fall.

Parallel habe ich Umstehende gefragt, ob ein Rettungswagen alarmiert und ein Notruf abgesetzt wurde. Das wurde bejaht. Und dann fing ich mit der Herz-Lungen-Wiederbelebung an.

War das für Sie ein Automatismus, der ablief oder haben Sie sich trotz der gebotenen Eile einen Plan gemacht, was zu tun ist?

Ich habe nur einen kurzen Moment darüber nachgedacht, warum alle Menschen herumstanden und keiner half. Fragen wie ‘Warum hilft keiner?’, ‘Was genau ist passiert?’ gehen einem durch den Kopf, aber letztendlich spult man bei der Ersten Hilfe ab, was man gelernt hat. Für mich war das also eher ein Automatismus.

Woher wussten Sie, was genau zu tun ist?

Mal abgesehen von den Sofortmaßnahmen am Unfallort, die wir alle mit dem Führerschein gelernt haben, habe ich eine Erste-Hilfe-Ausbildung als Feuerwehrmann bei der Freiwilligen Feuerwehr gemacht und auch immer wieder aufgefrischt. Mein erstes Training war bereits 1979. Ich unterrichte außerdem Erste Hilfe in der Schule, in der ich seit 2003 als Lehrer tätig bin. Auf die Ausbildung bin ich durch unseren ehemaligen Konrektor und Chorleiter gekommen. Er war ehrenamtlicher Ausbildungsleiter beim Deutschen Roten Kreuz in Hildesheim-Marienburg. Er hat mir gesagt, dass es eine gute Sache sei – auch für die Schülerinnen und Schüler und das Lehrpersonal. Ich habe mir einige seiner Kurse angesehen und dann selbst einen Lehrgang besucht. Früher habe ich sogar Feuerwehren ausgebildet. Das wurde mir aber mit der Zeit zu viel.

Genutzt hat mir mein Wissen bereits mehrfach. Denn ich hatte einige Situationen, in denen andere Personen Erste Hilfe benötigten. Eine Herz-Lungen-Wiederbelebung kam noch nicht so häufig vor, aber auch das ist ein Automatismus, den man abspult, wenn die Zeit drängt.

Kommen wir mal zurück auf die Szene in Radebeul. Was haben die Menschen gemacht, die um den Bewusstlosen und Sie herumstanden?

Die drei jungen Leute, die neben ihm standen und weinten, waren seine Freunde, mit denen er auf dem Weinfest war. Ich habe erfahren, dass sie Einiges getrunken hatten. Der Bewusstlose hat das nicht gut vertragen. Die anderen Personen standen herum, unterhielten sich, tuschelten – aber sie haben nicht aktiv geholfen. Mein Schwager kam mir zu Hilfe – die Umstehenden nicht.

Zwei Personen üben eine Herzdruckmassage an einem Dummy.

Hat es Sie Überwindung gekostet zu helfen?

Herz-Lungen-Wiederbelebung ist für mich keine Überwindung. Da bin ich dem jungen Mann ja noch nicht nahe gekommen. Als ich eine Atemspende geben wollte, hörte ich ein Röcheln in seiner Brust und habe seinen Kopf spontan von mir weggedreht. Er musste sich mehrfach übergeben. Er hat dann angefangen zu husten. Die Augen gingen auf und er konnte mir sagen, dass er auf dem Weinfest war. Er war also wieder bei Bewusstsein.

Nach kurzer Zeit kam ein Rettungswagen angefahren? Wie lief die Rettung weiter ab?

Richtig, irgendwann kam der Rettungswagen. Die Rettungssanitäter haben sich einen Weg durch die Leute gebahnt. Ich muss gestehen, sie waren recht unhöflich. Sie haben auch mich zur Seite geschubst und dann die ersten Maßnahmen vorgenommen, die man bei einem Hilfebedürftigen macht - Puls geprüft, mit ihm gesprochen. Sie haben eine Rolltrage geholt und den jungen Mann raufgesetzt. Ich habe noch mitgeholfen. Zu zweit haben sie die Rolltrage dann zu ihrem Wagen geschoben. Ich bin mitgegangen und habe gefragt, ob ich noch etwas tun könne. ‘Nein’, war die knappe kurze Antwort. ‘Wir bringen ihn jetzt ins Krankenhaus.’

Der junge Mann wurde in den Rettungswagen geladen. Was haben Sie dann gemacht?

Ich habe die Decke meines Schwagers aufgehoben und den Erste-Hilfe-Kasten aus unserem Auto mitgenommen. Davon hatten wir nichts verwendet. Dann bin ich gegangen. Wir sind nach Hause gefahren. Während der Fahrt haben wir uns über das Erlebte unterhalten. Ich musste meinen Frust loswerden, dass niemand außer uns geholfen hat.

Hat der junge Mann oder hat jemand der Umstehenden Ihnen gedankt, sich an Sie gewandt?

Nein, keiner. Auch kein Rettungssanitäter.

Sie sagen, dass Sie schon mehrfach Erste Hilfe geleistet haben, dies aber ein Fall mit Reanimation war. Und er ist auch noch positiv ausgegangen. Haben Sie dieses Erlebnis für sich später noch reflektiert?

Ja, ich habe mit meiner Familie gesprochen. Ich thematisiere es auch, wenn ich Erste-Hilfe-Kurse gebe. Keiner hat geholfen, obwohl jeder hätte helfen können. Jeder und jede, der bzw. die einen Führerschein gemacht hat, kann helfen. Und dort standen Erwachsene, die einen Führerschein haben.

Dirk Wiezer mit verschränkten Armen neben einem Feuerwehr-Rettungswagen.

Ich war schon mehrfach an Feuerwehreinsätzen beteiligt, bei denen wir Menschen reanimieren mussten. Auch an diese Fälle erinnere ich mich. Hier ganz in der Nähe meines Wohnorts gibt es eine Alleestraße. Auf der rechten Seite steht ein kleines Kreuz mit einer Kerze vor einem Baum. Da war ein Unfall. Ich war mit der Feuerwehr vor Ort. Wir haben auch eine Reanimation bei dem Unfallopfer vorgenommen – allerdings ohne Erfolg. Das gibt es auch – und damit muss man auch umgehen.

Für mich ist es ein kleiner Unterschied, ob jemand verletzt ist durch einen Autounfall oder ob jemand – wie nach dem Weinfest – einfach zu viel getrunken hat. Bei einem Unfall ist es oft blutig und somit natürlich noch weniger angenehm.

Ich möchte Ihnen noch ein Beispiel geben: Wir wurden als Feuerwehr zu einem Verkehrsunfall gerufen. Ein Mann und eine Frau waren beteiligt. Die Frau schien wenig verletzt. Wir haben miteinander gesprochen. Wir haben sie auf eine Decke gesetzt und zugedeckt. Erst dachten wir, sie sei schwanger. Das war aber nicht der Fall. Der Mann dagegen war schwer verletzt. Um ihn haben wir uns mehr gekümmert. Beide wurden ins Krankenhaus gebracht. Die Frau ist im Krankenhaus verstorben. Der Mann, der schwerer verletzt schien, hat überlebt. Manchmal kann man das Ende eines Rettungseinsatzes nicht vorhersehen.

Ich habe für mich entschieden, nie einen Motorradführerschein zu machen. Da hat man zu wenig Knautschzone. Und ich fahre bedingt durch meine Erfahrungen sehr viel bewusster Auto. Ich fahre 120 km/h auf der Autobahn, beim Überholen auch mal ein bisschen schneller. Ich bin einfach vorsichtiger geworden. Weil ich schon zu viel gesehen habe. Ich überhole auch nicht einfach so auf einer Landstraße.

Ärgert es Sie dann, wenn Sie von einem schnellen – sagen wir – Sportwagen überholt werden?

Nur wenn ich gerade selbst überhole und der Wagen hinter mir mit Lichthupe ankommt und dicht auffährt. Sonst ist mir das egal. Ich kann es ja eh nicht ändern, wie die Leute fahren.

Sie haben gesagt, dass in Radebeul die Menschen um den jungen Mann am Boden herumstanden, aber nicht aktiv geholfen haben. Haben Sie das schon öfter wahrgenommen bei Ihren Rettungseinsätzen?

Wenn ich als Feuerwehrmann zu einem Unfall komme und vorher keiner geholfen hat, ärgert es mich. Wenn die Feuerwehr dann aber da ist – oder noch besser ein Notarzt – dann können sich Umstehende zurückziehen. Bei fast allen Unfällen erlebe ich aber immer wieder Gaffer. Ich spreche diese Menschen unter Umständen aktiv an. Meistens begegnet mir dann Unsicherheit. Manchmal ist es auch Angst, helfen zu müssen. Und manche Leute haben eigentlich nur darauf gewartet, dass irgendwer sie anspricht, damit sie etwas tun und helfen können.

Wie ist Ihre Einstellung zu Erster Hilfe?

Ich finde Erste Hilfe total wichtig. Sonst würde ich sie ja auch nicht ausbilden. Ich finde es wichtig, dass man das kann und dass man es macht. Es rettet Menschenleben. Nicht immer, aber manchmal – hoffentlich.

Man kann bei der Ersten Hilfe auch nichts falsch machen. Das meiste passiert mit gesundem Menschenverstand. Falsch ist nur, wenn man gar nicht hilft. Ich ermutige hiermit alle Leserinnen und Leser, einen Erste-Hilfe-Kurs zu machen oder das Wissen aufzufrischen.

Vielen Dank, Herr Wiezer, dass Sie diese Erinnerung mit uns geteilt haben – und schön, dass es Menschen wie Sie gibt, die Anderen in Not Erste Hilfe leisten ohne zu zögen.

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