Sonja Senking

Portraitbild von Sonja Senking vor einer Rettungswache.

Frau Senking, vielen Dank, dass Sie sich dazu bereit erklärt haben, Ihre Erlebnisse mit uns zu teilen. Sie haben als Rettungssanitäterin beim DRK mehrere Personen wiederbelebt. Aber Ihre erste Wiederbelebung war eine sehr persönliche – Sie haben mit 17 Jahren Ihren Großvater reanimiert. Was ist damals vorgefallen?

Meine Eltern und ich haben damals im selben Haus wie meine Großeltern gewohnt. Ich lag schon im Bett, plötzlich klingelte es Sturm und meine Oma brüllte, ich solle sofort runterkommen, der Opa sei zusammengebrochen. Meine Großeltern hatten Fernsehen geguckt, dann hat Opa wohl gesagt, es ginge ihm nicht gut. Auf dem Weg zur Toilette ist er dann zusammengebrochen.

Und Sie sind sofort runtergerannt?

Ja, es war nur die Treppe runter und dann war ich schon im Wohnzimmer – und da lag der Opa auf dem Boden. Die Oma stand daneben und hat geschrien. Ich weiß noch, dass ich sie angeschrien habe, sie solle den Notruf starten, statt hier rumzubrüllen. Dann habe ich die Vitalzeichen kontrolliert – damals war das noch Atmung und Puls – und habe gemerkt, dass da nichts mehr ist. Also habe ich mit der Wiederbelebung begonnen. Meine Eltern sagten damals immer, wäre ich nicht gewesen, würde Opa nicht mehr da sein.

Woher wussten Sie so genau, was zu tun ist?

Ich war damals schon ein, zwei Jahre beim DRK in der DRK-Bereitschaft, hatte meine Sanitäterausbildung bereits gestartet und parallel dazu die entsprechende Praktikumsserie beim Rettungsdienst durchgeführt.

„Ich habe nicht nachgedacht. Ich habe einfach losgelegt mit Herzdruckmassage und Beatmung.“

Haben Sie noch eine Erinnerung daran, wie Sie sich während der Reanimation gefühlt haben? Sie waren damals ja noch sehr jung.

Es war mein Lieblingsopa und ich hatte eine Heidenangst. Ich weiß noch, dass ich ganz viel geheult habe und ihn immer wieder angeschrien habe, dass er mich nicht verlassen darf. Aber ich habe nicht nachgedacht. Ich habe einfach losgelegt mit Herzdruckmassage und Beatmung. Irgendwann kam der Rettungsdienst. Ich weiß nur, dass die Kollegen reinkamen und der eine Kollege mich auch erkannt hat. Ich habe einfach weiter gedrückt, während die Kollegen den „Rest“ gemacht haben, die Beatmung übernommen, eine Infusion gelegt, Medikamente verabreicht.

Was ist dann passiert? Ist Ihr Großvater an Ort und Stelle wieder aufgewacht? 

Nein, sie haben ihn dann im Krankenhaus wiedergeholt. Dort lag er auch noch lange auf der Intensivstation, wo ich ihn immer wieder besucht habe. Wenn ich dann Nachtdienst hatte beim Rettungsdienst, durfte ich immer an seinem Bett sitzen.

Wie haben Sie die Zeit damals empfunden?

Es war natürlich eine besondere Zeit. Ich war halt seine kleine Sonny, sein Lieblingsenkelkind. Wir hatten einen sehr innigen Draht zueinander. Wir haben dann noch viel Zeit miteinander verbracht, sehr intensiv, weil wir gemerkt haben, wie wertvoll die Zeit ist. Zwei Jahre später ist er dann verstorben.

„Ich weiß noch, dass ich gefahren bin – und dann am Schleudern war und ich nur noch ,Nein!‘ gebrüllt habe.“

Einige Jahre später, als Sie 24 Jahre alt waren, ist es dann zu einem Unfall gekommen, bei dem sie selbst wiederbelebt werden mussten. Möchten Sie uns davon auch erzählen?

Ich war morgens mit dem Auto auf der Landstraße unterwegs, um im Rahmen einer Sanitäterausbildung zu unterrichten. An vieles kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Ich weiß noch, dass ich gefahren bin – und dann am Schleudern war und ich nur noch „Nein!“ gebrüllt habe. Dann bin ich wieder wach geworden und habe einen Mann gesehen, in dessen Arme ich gefallen bin. Danach hatte ich wieder einen Filmriss. Die nächste Erinnerung ist, dass es dunkel und kalt war und ich einen Hubschrauber hörte. Ich hörte den Kollegen rauskommen und sagen: „Das ist unsere Sonny.“

Ein schrecklicher Moment für Ihre Kollegen.

Ja. Ich weiß noch, dass meine Kollegen mich während der Reanimation immer wieder angeschrien haben, dass ich mitarbeiten solle und dass ich doch zu jung sei und dass ich ihnen das nicht antun solle. Und dann ist es wieder schwarz geworden.

Sonja Senking in einem Schulungsraum bei einer Wiederbelebungsübung mit einem Dummy.

Wissen Sie heute, wie es zu dem Unfall gekommen ist?

Hinterher sagte die Polizei anhand der Spuren, dass wohl einer von rechts kam und mir die Vorfahrt genommen hat. Ich habe wohl eine Vollbremsung gemacht, bin auf eine Eisplatte geraten, ins Schleudern gekommen und dann eine Böschung runter und dort gegen den Baum. Und kein Mensch kann mir sagen, wie ich aus diesem Auto rauskam, geschweige denn, wie ich die Böschung hochkam und zum Nachbarhaus gelaufen bin. Wo ich dann in den Armen dieses Mannes zusammengebrochen bin, bevor erneut der Filmriss kam.

„Ich konnte mich an nichts erinnern! Ich habe meine ganze Vergangenheit vergessen.“

Und dann sind Sie im Krankenhaus wieder aufgewacht?

Genau, ich bin irgendwann im Krankenhaus wieder aufgewacht und ich weiß noch, dass meine Eltern am Bett saßen und weinten. Meine Eltern habe ich erkannt, aber da war noch jemand, der behauptet hat, er wäre mein Freund. Aber ich konnte mich an nichts erinnern! Ich habe meine ganze Vergangenheit vergessen. Interessanterweise allerdings nicht das, was ich fachlich gelernt habe. Ich musste viele Fotos anschauen, um mich an alles Weitere zu erinnern. Das war dann ein Prozess, der über Jahre ging. Ich hatte ein Schädel-Hirn-Trauma dritten Grades mit Schädelsprengung und Hirnödem erlitten. Der Heilungsprozess des Schädels war langwierig, zudem war ich danach jahrelang Migränepatientin.

Würden Sie sagen, dass Sie dieses Erlebnis sehr geprägt hat?

Es hat mich insofern geprägt, dass ich keine Angst vorm Tod habe. Ich bin jetzt auch nicht wahnsinnig, dass ich zum Beispiel auf einem Seil im Grand Canyon balancieren würde oder so – aber ich bin kein ängstlicher Mensch. Und die Zeiten haben sich ja auch komplett geändert. Heute kann man über so etwas reden, um es zu verarbeiten – das gab es damals nicht. Inzwischen können Ehrenamtliche und Ersthelfer auch offiziell von einer Posttraumatischen Belastungsstörung betroffen sein. Da hat sich viel getan in der Wahrnehmung. Damals ist man ganz schnell zurück zum Alltag und hat wieder funktioniert.

Wie oft haben Sie selbst reanimiert?

Erwachsene in all den Jahren vielleicht 10-15 Mal. Ich bin Hebamme von Beruf und habe deshalb öfter Neugeborene reanimiert, bei den Babys kommt das manchmal vor. Das ist ja nur so ein kleiner Brustkorb, da geht man mit zwei Fingern rein. Das macht man meistens maximal eine Minute – und dann machen sie die Augen auf und brüllen wieder!

Und wie war das bei den Erwachsenen, die sie wiederbelebt haben – was waren das hauptsächlich für Situationen?

Das waren meist Anrufe in der Nacht, der ein oder andere Verkehrsunfall, oder man kommt in einen Haushalt. Und teilweise – ich habe auf dem Land gelebt – sind wir auch zu Bauernhöfen gefahren, denn es gab früher ganz viele Unfälle, die es heute nicht mehr gibt, weil die Schutzmaßnahmen bei der Arbeit heute viel besser sind. Wie oft hatten wir irgendwelche Amputationen und Verletzungen! Die erlebt man teilweise heute nicht mehr, die Maschinen haben inzwischen geschlossene Systeme und weitere Sicherheitsvorkehrungen. Das war einfach eine andere Zeit.

Ist es häufig vorgekommen, dass bereits Reanimationsmaßnahmen eingeleitet wurden, als Sie ankamen?

In den wenigsten Fällen! 2004 habe ich mit der aktiven Arbeit im DRK aufgehört und bin nur noch in der Ausbildung tätig.

„Dass jemand freiwillig in den Erste-Hilfe-Kurs kommt, das ist schon sehr, sehr selten.“
Was sind das für Gruppen, die Sie trainieren?

Was sind das für Gruppen, die Sie trainieren?

Die kommen zu 90 % aufgrund berufsgenossenschaftlicher Vorgaben. Dass jemand freiwillig in den Erste-Hilfe-Kurs kommt, das ist schon sehr, sehr selten.

Portraitbild von Sonja Senking vor einer Rettungswache.

Und wenn doch jemand freiwillig kommt, welche Motivation steckt dann dahinter?

Manche kommen, weil sie älter sind. Oder weil sie beim Sport aktiv sind und dort im Zweifel helfen können wollen.. Einer war viel in den Bergen unterwegs – meistens gibt es einen spezifischen Grund oder ein Erlebnis, das sie wachgerüttelt hat. Einige Großeltern hatte ich auch schon im Ersthelfer-Kind-Kurs, weil die jetzt ihre Enkel beaufsichtigen müssen. Ja, da freuen wir uns natürlich immer über jeden Freiwilligen!

Wenn ich mich privat dafür entscheide, so einen Erste-Hilfe-Kurs zu machen, was erwartet mich dann ungefähr?

Es sind neun Unterrichtseinheiten vorgegeben, in denen wird über alles gesprochen, was wichtig ist. Das fängt mit Hintergrundinformationen an wie: Wann und wie starte ich den Notruf? Der Rettungsgriff aus dem Pkw ist Thema genauso wie Wundversorgung, die in Gruppenarbeiten geübt wird. Auch internistische Erkrankungen werden durchgesprochen, dann kommt die Bewusstlosigkeit mit stabiler Seitenlage, Helmabnahme bei bewusstlosen Motorradfahrern, Wiederbelebung und im Weiteren natürlich noch der Defibrillator. Bei uns sollen sich die Teilnehmenden in Gruppenarbeiten vieles erarbeiten und sich auch aktiv in den Unterricht einbringen.

„Der Mensch ist tot! Die einzige Chance zu überleben, ist deine Tätigkeit.“

Was ist das Entscheidende, was Sie Ihren Kursteilnehmenden mitgeben möchten?

Wenn man den Notruf startet, muss man die Zeit überbrücken, bis der Rettungsdienst da ist. Die Patienten haben keine Zeit, zu warten – sie brauchen die Ersthelfer. Das sind diejenigen, die über das spätere Leben entscheiden. Wenn jemand sagt, er würde auf den Rettungsdienst warten, antworte ich in den Kursen immer: „Was kann denn passieren? Der Mensch ist tot! Die einzige Chance zu überleben, ist deine Tätigkeit.“ Das ist mir immer sehr wichtig, dass die Leute das verstehen, dass sie eigentlich die wichtigsten Menschen in dieser Rettungskette sind, weil der Rettungsdienst nur darauf aufbauen kann, was der Ersthelfer vor Ort durchgeführt hat. Aber mir ist es auch wichtig, dass die Leute einfach wissen: Egal, welche Erste Hilfe sie leisten – es wird immer gut und richtig sein. Und es wird von niemanden erwartet, dass man alles sachlich nach einer Checkliste abarbeitet – man darf die Emotionalität ruhig zulassen.

Was glauben Sie, was die Menschen davon abhält, zu helfen?

Die Angst, etwas falsch zu machen. Manche Leute haben irgendwo bei der Ersten Hilfe mal zu hören bekommen, sie hätten etwas falsch gemacht – und das verwirrt, irritiert und verängstigt sie. Wieder andere schauen Serien wie Emergency Room oder Grey's Anatomy, was zusätzlich verwirrt, weil da manchmal Sprüche kommen wie: „Hättest du das nicht gemacht, wäre der jetzt nicht tot.“ Wo ich dann immer sage: „Leute, das ist Fernsehen, das hat keinen Bezug zur Realität!“ Manche haben auch Angst, sich mit HIV oder Corona anzustecken. Denen sage ich dann, dass 80 % der Vorfälle zu Hause passieren – es betrifft also am ehesten die eigene Familie.

„Man kann auf allem aufbauen, nur nicht auf Nichtstun.“

Was passiert denn, wenn man jetzt zum Beispiel in so einer Extremsituation nicht genau den Rhythmus trifft?

Es gibt keine Fehler in der Ersten Hilfe: Hauptsache drücken. Man sagt zwar immer, man müsse 100 Mal in der Minute drücken – aber wenn die Leute 80 Mal in der Minute drücken, dann ist das besser, als wenn sie gar nichts tun. Jede Hilfe ist besser, als nix zu machen. Man kann auf allem aufbauen, nur nicht auf Nichtstun.

Frau Senking, wir danken Ihnen für Ihre Offenheit und das Gespräch!

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